Wer das System nicht kennt, teilt - vermeintlich zu Recht - das diesjährige Abitursungemach dem NRW Bildungsministerium Frau Sommer und dem Verwaltungsjuristen Winands zu. In dieses Horn bläst auch der Neue Westfälische Kommentator Bernhard Hänel. Für ihn sind die "Schuldigen" der Bildungsmisere bereits ausgemacht. Er weiß nicht, wie das NRW Bildungssystem seit Jahrzehnten funktioniert, dann wüsste er, dass die Lösung des Problems bei weitem nicht so einfach gestrickt ist, wie er dies in seinen Kommentaren immer wieder verlauten lässt.
Worum geht es?
Um das diesjährige Zentralabitur in Mathematik. Es wurden Dinge gefragt, welche zwar im Lehrplan stehen, jedoch nicht an allen Schulen Thema waren. Frau Sommer ist bereits viel zu lange nicht mehr aktiv im Schuldienst gewesen, sonst hätte sie wissen können, dass in NRW der Lehrplan einen gewissen "Unverbindlichkeitscharakter" besitzt. Auch hätte sie gewusst, dass man die Dinge trennen muss, zwischen dem, was Lehrer im Alltag unterrichten und was nachher in den Klassenbüchern und Förderplänen schriftlich festgehalten wird.
Kann man dann den Vorwurf bzw. die Schuldzuweisung an die Lehrkräfte weiterreichen? Nein, eben auch nicht. Denn seit Jahren steigt die Arbeitsbelastung. Immer mehr soll "theoretisch" als Aufgabe erledigt werden. Weil dies in der Praxis allerdings nicht möglich ist, wird eben aufgeschrieben, was nie stattgefunden hat. Und hier nimmt das Dilemma seinen Anfang. "Lehrersozialisation" in die Schulbehördenhierarchien
Früh werden Lehrkräfte darauf getrimmt, sich der hierarchischen Schulbehördenstruktur zu unterwerfen. Dabei spielt die Vernunft und Wissenschaftlichkeit keine Rolle. Hier geht es auch um (irr-)rationale und gesetzeswidrige Anweisungen, welche der eine oder andere zu erfüllen hat. Tut er es nicht, hat er mit Sanktionen der Schulbehörde oder der Bezirksregierung zu rechnen.
Lehrkräfte werden früh in dieses System hineinsozialisiert: Zunächst müssen sie sich (irr-)rationalen Anforderungen während ihres Referendariats stellen. Sie lernen, dass die ausbildenden Lehrkräfte im Lehrerseminar das Sagen haben. Oft werden Dinge verlangt, welche rein persöhnliche Ansichten widerspiegeln und mit dem Stand der pädagogisch-psychologischen Wissenschaft wenig zu tun haben.......
Lehrerkontrolle ohne Expertentum
Später stehen Lehrkräfte unter der Kontrolle und den "verwaltungstechnischen" Anforderungen der übergeordneten Schulämter und Bezirksregierungen. Dort interessiert weder das Wohlergehen der Schüler, noch die Gesundheit und Arbeitsmotivation der Lehrer. Wie mir ein ehemaliger Schulleiter erzählte, hatten sich vor Jahren einige Schulleiter zusammen getan um die Behörden darauf aufmerksam zu machen, dass ihr Schulbetrieb nach einigen dieser Regularien nicht funktionieren könne. Mit der Androhung, man werde sie ihres Schulleiteramtes entheben waren sie von der Bezirksregierung mundtot gemacht worden.....
Natürlich "wissen" jene Behörden auch, welcher Unterricht der "Beste" ist. Sie geben schön theoretisch die Rahmenbedingungen vor. Schulbeamte - seit Jahrzehnten selbst nicht mehr in der Praxis - sind diejenigen, welche die Praktiker dann überprüfen und theoretisch natürlich alles besser wissen. So etwas wirkt sich auf das Klima aus. Da "offene" Kritik an den Behörden mit zum Teil massiven und zermürbenden Aktionen sanktioniert werden, übt der Lehrerstand "passiven" Widerstand aus. Das heißt, die Behörden bekommen das zu hören, was sie hören wollen. Sie lesen die Statistiken, welche sie lesen wollen und sie studieren Förderpläne, welche ihren Regeln entsprechen. Hinter den Kulissen im Lichte der Realität ist diese Handlungsweise für Lehrkräfte "überlebensnotwendig". Denn z.B. in den Herbst- und Wintermonaten kommt es - dank Überalterung, Überarbeitung, etc. - zu ständigen Ausfällen.
Lehrererkrankungen - Überstunden und Schulstundenausfälle
Da NRW seit mehr als 10 Jahren keine Lehrerüberhänge zum Ausgleich besitzt, müssen die übrig gebliebenen Lehrer Überstunden machen und werden eben dann auch in dieser Zeit eher wieder krank. So wird geflickt, wo es irgendwie geht. Stoff muss nachgeholt werden und oft fallen dafür z.B. Förderstunden wieder aus...und vieles bleibt aber auch liegen. Schauen wir uns die Situation in den Gymnasien an, so hat man ohne Lehrplankürzung das G8 im Schnellschuss durchgesetzt und zum Teil den Lehrern die Kürzung der Lehrpläne überlassen. Das kann nicht gut gehen. Frau Sommer ist nun dadurch gescheitert, dass sie unterstellt hat, die Lehrpläne könnten vollständig durchgezogen werden.
Auch die Kopfnotenproblematik ist eine "hausgemachte". Wenn nun von Rüttgers angesichts der zunehmenden Klagen eine "Ermahnung" an das Schulministerium geht, wird dies auch zukünftig nicht viel ändern. In Baden-Württemberg kann man über all den Bohei nur müde lächeln. Real- und Gymnasiallehrer sind erstaunt, wie gering - im Verhältnis zu BW-Abschlussprüfungen - die NRW Zentralprüfungen sind und welch immens hoher (auch finanzieller !!!) Aufwand betrieben wird, um diese neu zu etablieren.
Länderinteressen entsprechen weder Eltern- noch Schülerinteressen:
Wie viel Millionen könnte man sparen, wenn Deutschland ein Schulministerium hätte, ein Zentralabitur, einen Zentral-Realschulabschluss und einen Zentral-Hauptschulabschluss ? Wie viele Schulverwaltungsstrukturen ließen sich abbauen und die freiwerdenden Gelder in Schulen, Lehrer und kleinere Klassen investieren? So wird für Bildung viel Geld ausgegeben, bloß dass vieles davon nicht bei jenen ankommt, welcher der Bildung bedürfen: die Kinder. Sie werden auch zukünftig leiden, wenn ihre Eltern in einen anderen Ort ziehen müssen oder noch schlimmer gar in ein anderes Bundesland. Und wer von Nordrhein-Westfalen nach Hessen, Baden-Württemberg oder Bayern zieht, muss mindestens eine Klasse wiederholen um den Anschluss zu bekommen. Wer vom NRW-Gymnasium in ein anderes Bundesland nach der 10. Klasse zieht, schafft - wenn überhaupt - höchstens die Fachhochschulreife. Mit Sicherheit sind die Kinder in NRW nicht dümmer, als in anderen Bundesländern. Nur eben das Bildungssystem und die Lehrerausbildung ist dort um einiges chaotischer......
Und wer badet das oben beschriebene NRW-Bildungschaos aus? Wieder diejenigen, welche am unteren Ende der Hierarchie sitzen: die Schüler. Ihnen gilt mein Mitgefühl. Sie erleben ein Bildungssystem, welches dringend sanierungsbedürftig ist und sie leiden nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft unter dem:
was sie nicht gelernt haben und hätten lernen können bzw. sollen......
was lustlose oder überarbeitete, unterdrückte Lehrer an Frust auf sie übertragen haben......
fehlende Kompetenzen, welches das System nicht vermitteln konnte, jedoch hätte vermitteln können.....
fehlende Unterrichtsqualitäten, welche eine aufwendige, jedoch mangelhafte Lehrerausbildung nicht sichern konnte....
Bildquelle Pixelio:(c)Rainer SturmQuellen. Neue Westfälische vom 10. Juni 2008:
"Rüttgers stoppt Abi-Chaos - zweite Chance bei Mathe-Klausur“ von Bernhard Hänel Kommentar von Bernhard Hänel: Rüttgers Machtwort "Handlungsbedarf" Bernhard Hänel: Trotz Kontrolle viele Fehler bei Abi-Aufgaben - 17 Schritte bis eine Aufgabe zum Zentralabitur feststeht. Kurt Ehmke: Abitur nach der Entlassungsfeier - Nach scharfer Kritik an der Mathe-Klausur dürfen viele nun noch einmal ran - in sehr engem Zeitrahmen.
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